18.12.2014

Das Bild in den Zweigen

Von Rita Niehsner*

Draußen lauert der Krieg. Man schreibt das Jahr 1943. An verschiedenen Fronten toben erbitterte Kämpfe; Not und Elend finden kein Ende. Im Gefangenenlager von Perșan, in großen, doch nur notdürftig hergerichteten Holzbaracken, hungern und sterben unzählige russische Gefangene. Der neu errichtete Friedhof, vom Lager etwas abseits gelegen, zeugt auch heute noch von den schweren, todbringenden Jahren.

In Zeiden, zur selben Zeit, mangelt es in den Bauernwirtschaften an Arbeitskräften. Die jungen Männer fehlen allerorts. Sie sind alle zum Wehrdienst eingezogen. So werden auf Anforderung Gefangene zur Feldarbeit freigegeben. Diese Arbeitskräfte finden in der Bahngasse, in der Tischlerwerkstadt von Rudolf Meneges, eine Unterkunft.

Wenn man für sie bürgt, können sie dem Lager auch nachts fernbleiben. Andere aber müssen abends nach der Arbeit wieder abgeliefert werden. Auch in unser Haus kommen zwei Gefangene. Nach der Feldarbeit machen sie sich in Vaters Schmiede nützlich. Sie bleiben bei uns bis Kriegsende.

Der milde Herbst geht, der Winter zieht über Nacht bei uns ein und mit ihm nähert sich die Weihnachtszeit. Am Heiligen Abend, nach dem Gottesdienst, folgen die Feier und die Weihnachtsbescherung daheim. Vater bringt dazu auch die beiden Gefangenen mit. Noch immer etwas scheu und zurückgezogen sitzen sie beide in der Nähe der Tür und lauschen so dem Ablauf des Abends, nachdem auch sie ihre Geschenke in Empfang genommen haben.

Die kleinen Geschwister tragen Gedichte vor, darauf singen wir alle die vertrauten Weihnachtslieder. Die vielen brennenden Kerzen am geschmückten Christbaum geben dem Abend einen festlichen Rahmen.

Dann aber, inmitten der Feier, ganz plötzlich und unerwartet, geht das kleinste der sechs Kinder mit ausgestreckten Ärmchen auf den Baum zu und ruft freudig und erregt den Namen „Erwin“ aus. Da entdecken wir alle das Bild unseres Bruders, der zu der Zeit an der Front weilte. Mutter hatte es heimlich in die Zweige gestellt. Die Blicke sind nun alle auf das Bild gerichtet. Der freudige Gesang wird immer leiser. Tränen machen sich bemerkbar, Hände suchen und umfassen das Taschentuch. Zugleich aber ist es uns peinlich, hier vor dem  Feind zu weinen. Schwäche zu zeigen, wäre hier gewiss fehl am Platz – so hatten wir es einmal gelernt. Doch da merken wir, auch die beiden Gefangenen weinen mit uns – sie haben auch ohne Worte begriffen, worum es hier geht.   Verbindet uns hier am Weihnachtsabend nicht gleichzeitig ein ähnliches oder sogar gleiches Schicksal?

Durch diese Begebenheit und der Heiligen Nacht im Inneren bewegt und angerührt zog das Kerzenlicht um uns immer engere Kreise und uns alle mit hinein.

 *Diese Geschichte stammt aus dem Nachlass von Rita Niehsner, die sie  1998  in Herzogenaurach schrieb.