30 Jahre seit der Matura

Gaudeamus igitur = Lasst uns also fröhlich sein

War es glückliche Fügung, perfekte Planung, Ironie des Schicksals oder segensreiches Geschenk - wer weiß das heute noch? Wir kamen alle, unsere Lehrer ausgenommen, auf das Jahr genau 1958 zur Welt. Weder bekleidet noch der Sprache kundig, waren wir nichts anderes als nackte Analphabeten, denen es allerlei beizubringen galt. Während unsere Blöße sofort bedeckt wurde, dauerte es noch ganze sieben Jahre, bis unsere Eltern beschlossen, uns in die Schule zu schicken. Mit "Susi am Seil" und der "Geschichte vom dicken fetten Pfannkuchen" sollten wir der deutschen Sprache in Wort und Schrift mächtig werden und uns dieser Sprache in allen Fächern bedienen. Das war allerdings die enge Sichtweise der meisten Eltern und sogar einiger Lehrer, die Schule nur mit Lernstoffbewältigung gleichsetzten.

Ganz anders die Partei. Dank unermüdlichen Fleißes und beispielhaften Betragens gerieten wir bald als Pioniere in ihre Obhut und durften schon in jungen Jahren -- geschmackvoll uniformiert -- defilieren, ein Privileg, das der Mehrheit der Weltbürger bis heute verwehrt geblieben ist. Der weisen Führung der Partei und ihres auf jedem Kongress einstimmig wiedergewählten Führers haben wir es zu verdanken, dass wir im Laufe der Jahre zu vielseitig entwickelten Persönlichkeiten heranreiften. Wir waren nicht der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ausgeliefert, nein, wir wurden durch Arbeit für die Arbeit erzogen. Welche Weitsicht! Als vergnügte Erntehelfer lernten wir bis spät in den Herbst hinein Kartoffeln, Zwiebeln, aber auch gefrorene Rüben und Möhren zu ernten. Nicht einmal sonntags waren wir hilflos der Freizeitplanung ausgeliefert. Ja, auch da wurde für uns gesorgt im Rahmen der erhebenden Aktivitäten der Patriotischen Garde. Was kann es Spannenderes geben für junge Menschen -- beiderlei Geschlechts natürlich --, als sich im Umgang mit Gewehren zu üben. Wie viel Vertrauen schenkte uns doch die Partei, wenn man bedenkt, dass heutzutage nicht einmal virtuelle Kampfspiele gern gesehen sind. Ich glaube, dass ich da für alle sprechen kann, wenn ich sage, dass wir uns gerne all dieser Aktivitäten erinnern, die unser Schülerleben so abwechslungsreich machten und uns stets das Gefühl gaben, für das blühende Vaterland nützlich zu sein und einen kleinen Beitrag zur vorzeitigen Erfüllung des Fünfjahresplanes zu leisten.

Allerdings wurden diese ebenso zahlreichen wie sinnvollen Tätigkeiten gelegentlich durch pädagogisch fragwürdigen Frontalunterricht unterbrochen. Beiträge von Seiten der Schüler wurden nur nach vorherigem Melden gestattet, ja, sogar anregende Gespräche mit dem Nachbarn rigoros unterbunden, was manchmal zu einer gespenstischen Ruhe in den Klassenzimmern führte. Es ist eine traurige Tatsache, dass während des Unterrichts den individuellen Bedürfnissen der Schüler nicht im Geringsten Rechnung getragen wurde. Wir durften uns weder jederzeit verbal äußern noch wiederholt zur Toilette gehen, geschweige denn -- unserem Bewegungsdrang folgend -- hin und wieder eine Runde im Klassenzimmer drehen, ohne mit unangenehmen Konsequenzen rechnen zu müssen. Um wie vieles leichter haben es da unsere Kinder. Pause und Unterricht stehen heutzutage nicht mehr in krassem Gegensatz zueinander, sondern gehen oft fließend ineinander über. Darüber hinaus wird durch zahlreiche Unterrichtsausfälle dem ausgeprägten Erholungsbedürfnis sowohl der Schüler als auch der Lehrer Rechnung getragen. Ja, wir müssen zugeben, die Pädagogik hat große Fortschritte gemacht.

Wir mussten noch Stunde um Stunde den Ausführungen unserer Lehrer lauschen, ungeachtet dessen, wie veraltet der Stoff war. Ich denke da vor allem an den Deutschunterricht, in dem wir exzessiv die ganzen literarischen Strömungen und das auch noch in chronologischer Reihenfolge lernen mussten. Nicht nur Goethe und Schiller, nein, sogar Novalis, Hebbel, Keller, Grillparzer, Fontane, um nur einige dieser verstaubten Autoren zu nennen, wurden uns aufgezwungen, obwohl die damalige Gegenwartsliteratur durchaus einiges zu bieten hatte. Man denke da nur an Hans Liebhardt.

Der Geschichtsunterricht bescherte uns ein profundes Wissen der rumänischen Historie. Drei Schuljahre, das vierte, das achte und das zwölfte, verwendeten wir auf unser Land, was dazu führte, dass wir bis heute dem furchtbaren, nein, ich meine natürlich fruchtbaren Stefan cel Mare, dem weltberühmten Vlad Tepes (über dessen Fruchtbarkeit wenig überliefert ist, dafür umso mehr über seine Furchtbarkeit) oder gar dem tapferen Ion Voda cel Cumplit, der in seiner langen Regierungszeit von ganzen zwei Jahren die Türken das Fürchten lehrte, ein ehrendes Andenken bewahren.

Die Mathematik- Physik- und Chemielehrer verschlossen sich konsequent neuesten erziehungswissenschaftlichen Erkenntnissen. Nie durften wir an Gruppentischen in häufig wechselnder Besetzung unsere persönlichen Eindrücke unangemeldet zum Besten geben. Damit nicht genug, wir wurden sogar gezwungen, ohne Taschenrechner zu den richtigen Ergebnissen zu kommen, ein heute unvorstellbarer Vorgang, der an Grausamkeit grenzt.

Musik will ich hier nicht unerwähnt lassen, ein Fach, das zu unserer Zeit -- völlig an der Realität vorbei -- mit Singen in Verbindung gebracht wurde. Kein Wort vom Quintsextakkord, geschweige denn von den harmonischen Chiffrierungssystemen oder gar den zyklischen Akkordbildungen. Entsprechend sind unsere Wissenslücken, unter denen wir im Alltag nicht selten zu leiden haben.

Sport fand, wie alle anderen Fächer auch, regelmäßig statt. Unsere Lehrer gönnten weder sich noch uns die notwendigen Unterrichtsausfälle. Besonderer Höhepunkt der Sportpädagogik war der Dauerlauf am Ostermontag, den wir im romantischen Ambiente des Erlenparks absolvieren durften. Was diese Aktion für intensive Gefühle bei uns Schülern auslöste, ist kaum in Worte zu fassen.

Ganz besondere Fürsorge ließ uns unser Schulleiter im Lyzeum angedeihen. Er war, man muss es einfach anerkennen, ein begnadeter Pädagoge mit Gespür für die wichtigen Dinge im Leben eines Schülers. Könnten wir je vergessen, wie er uns Mädchen stets freundlich daran erinnerte, das schicke weiße Bändchen zu tragen und die Länge unserer sorgfältig ausgesuchten Uniform zu beachten. In manchen Fällen empfahl er sogar noch im letzten Schuljahr, eine neue Uniform zu besorgen, eine, die das Knie bedeckend, unsere Jungs oder gar die Lehrer in ihrer Konzentration auf das Wesentliche beließ. Es war ihm ein Herzensanliegen, seine Eleven auf die genaue Einhaltung der Hosenbeinweite, die Beschaffenheit der Strümpfe (ich sage nur "ciorapi tetra") und die männlichen Mitschüler auf die Länge der Haarpracht hinzuweisen. Er wurde nicht müde, unsere Jungs an einem Tag gleich mehrmals zum Friseur zu schicken, bis sie so aussahen wie manche von ihnen heute. Welcher Schulleiter würde diese Bürden heutzutage noch auf sich nehmen? Welcher Direktor kümmert sich heute denn noch um die Kleidung oder gar die Frisur seiner Schüler? Die Ärmsten werden mit diesen Entscheidungen alleingelassen. Welch enorme Belastung daraus für eine zarte Kinderseele erwächst, können wir nur erahnen.

Aus der liebevollen Fürsorge unseres unvergessenen Direktors wurden wir im Juni 1977 nach zwölf gemeinsamen Schuljahren und der abschließenden Matura jäh entlassen, um einen Beruf zu erlernen, eine Familie zu gründen und vor allem dem Sozialismus weiter zu dienen. Letzteren Auftrag nahmen die meisten von uns bedauerlicherweise nicht ernst -- Undank ist bekanntlich der Welt Lohn. Sie zogen es vor, in freier Wildbahn, im wilden europäischen Westen sozusagen, ihren Weg zu machen.

30 Jahre sind seither ins deutsche Land gegangen. 30 Jahre Kapitalismus haben deutliche Spuren hinterlassen. Die klare Sicht wurde eingetrübt und nur mit Brille lassen sich Nähe und Ferne einigermaßen erkennen. Vom vielen Haareraufen sind dieselbigen wesentlich weniger geworden -- unser ehemaliger Direktor hätte seine Freude daran. Zwischen den grauen Haaren wachsen immer weniger blonde oder braune Strähnchen. Und das sind nur die auf den ersten Blick sichtbaren Zeichen. Ich will mich darauf beschränken und hier nicht weiter ins Detail gehen. Den Kummerspeck und die ausgebissenen Zähne lasse ich hier bewusst unerwähnt.

30 Jahre sind wir nun getrennte Wege gegangen, haben die unterschiedlichsten Berufe gelernt, einen Partner gefunden, Nester gebaut und, nach archaischem, heutzutage nur noch seltenen gepflegtem Brauch, sogar Nachwuchs gezeugt und uns um dessen Aufzucht gekümmert.

Zwölf gemeinsame Schuljahre sind jedoch offensichtlich ein so stabiles Fundament, dass wir auch nach 30 Jahren noch Lust und Freude haben, miteinander zu jubilieren. Wir wollen es nicht versäumen, an dieser Stelle dem rumänischen Schulsystem, im Besonderen der Unterrichtsministerin Suzana Gadea sowie ihrem Vorgänger Paul Niculescu-Mizil zu danken dafür, dass sie es uns ermöglicht haben, so viele Jahre gemeinsam die Schulbank zu drücken und uns zahlreiche Schulwechsel erspart haben.

Drum:

Vivat academia, vivant professores! 
Vivat membrum quodlibet, 
Vivant membra quaelibet, 
Semper sint in flore!

Frei übersetzt:

Es lebe die Schule, 
es leben die Lehrer, 
es leben die Schüler! 
Mögen sie immer in Blüte stehen!

Netti Königes