09.01.2015

Der schwerste Tag - 70 Jahre Russlanddeportation

Am 6. Januar 1945 erging im Namen der Alliierten Kontrollkommission für Rumänien an die rumänische Regierung die Aufforderung, alle in Rumänien lebenden deutschen Einwohner zur Arbeit in die UdSSR zu mobilisieren. Betroffen waren Männer im Alter von 17 bis45 und Frauen von 18 bis 30 Jahren. Am 11. Januar 1945 wurde mit der Aushebung und dem Transport in die damalige Sowjetunion, hauptsächlich in das Donezbecken, begonnen.

Diese von Moskau diktierte Maßnahme stellte einer der ersten Übertretungen der Bestimmungen des Waffenstillstandsabkommens dar, das am 12. September1944 zwischen Rumänien und den Alliierten getroffen worden war. Darin waren keine Repressalien in Form von Aufbauarbeiten in der Sowjetunion vorgesehen.

Nachbarvater thematisiert Deportation beim 5. Nachbarschaftstreffen


Vom 17. bis 20. Juni 1965 fand in Bischofshofen (Österreich) das bis dahin schönste und harmonischste 5. Zeidner Nachbarschaftstreffen statt. Und da sich das Jahr der Verschleppung nach Russland (1945) zum zwanzigsten Mal jährte, sah der damalige jüngere Nachbarvater Balduin Herter, der übrigens im Alter von 18 Jahren auch zu den Verschleppten zählte, es als seine Pflicht an, diesen Nachbarschaftstag erstmals im Zeichen des Gedenkens an die erbarmungslose Zwangsdeportation der Volksdeutschen nach Russland zu stellen.

Mit dieser längst fälligen Geste erinnerte er vor allem an die Männer und Frauen aus Zeiden, die nach 1945 in den sowjetischen Internierungslagern Parkomuna, Almasna, Nikanor und Makeevka interniert waren. Während ihrer Internierungszeit starben 113 Zeidner in der Ukraine und im Ural an den Folgen von körperlicher Überbelastung und Unterernährung.

Die Recherchen für seine damalige Ansprache stützte der Nachbarvater auf die allgemeine Geschichtsschreibung, auf seine eigenen Erfahrungen und auf Erlebnisberichte und Aufzeichnungen von Hermann Gutt, Elfriede Dück, geb. Stoof, und Rosa Möller, geb. Kenzel. Mehr brauchbares Material stand ihm damals nicht zur Verfügung.

Mit Hilfe diesen Aufzeichnungen konnte er den Anwesenden anschaulich vor Augen führen, wie die überraschende Rekrutierung der zu Deportierenden in Zeiden gegen Ende des Jahres 1944 von Sonderkommandos der sowjetischen GPU, der rumänischen Polizei und des Militärs vorgenommen wurde, unter welchen widrigen Umständen sich der Abtransport am 13. Januar 1945 von Zeiden aus in die sowjetischen Arbeitslager gestaltete, wie man sich das russische Lagerleben, die widrigen Hygienezustände vor Ort, die mangelnde Ernährung, die unzureichende medizinische Versorgung, die Verbindung nach Hause in die geliebte Heimat und vor allem die harten Arbeitseinsätze und das unmenschliche Arbeitspensum vorzustellen hatte. Ganz zu schweigen von der Ungewissheit und der Angst, die tagtäglich auszustehen war und dem Willen, trotz aller Widrigkeiten, unbedingt überleben zu wollen.

Die damals von Baldi Herter zitierten Aufzeichnungen der Betroffenen konnten jedoch nur annährend das widergeben, was die aus Zeiden Ausgehobenen während ihrer Verschleppung erlebt hatten und was ihnen während der Deportationszeit widerfahren war. Ohne eine direkte Schuld am Kriegsgeschehen zu haben, der Zweite Weltkrieg war noch nicht beendet, aber der Sieg der Alliierten war vorausschaubar, wurden sie urplötzlich weit weg von Berlin zu Sündenböcken und Kollaborateuren Hitlers abgestempelt, zum Wiederaufbau in die Sowjetunion verschleppt und primär dafür bestraft, der deutschen Volksgemeinschaft in Rumänien anzugehören.

Die damalige Festveranstaltung, bei der sich die Anwesenden (darunter auch etliche Russlanddeportierte) in würdigem Rahmen in Ehrfurcht vor den Opfern (die 113 Namen wurden vorgelesen) verneigten, machte deutlich, dass mit der bewussten und zielgerichteten Verschleppung der Männer, Frauen und der Jugendlichen (17 und 18-Jährige waren auch dabei) in die Sowjetunion, eine Repressalie der besonderen Art gegen die Deutschen vollzogen wurde.

Sie hatte der deutschen Volksgemeinschaft in Rumänien innerhalb von nur wenigen Tagen den bis dahin härtesten Schlag versetzt und galt als der bitterste und schwerste Tag in der sächsischen Geschichte. Dieses Ereignis, das nicht nur in Zeiden seine tiefen Spuren in Familien und im gesellschaftlichen Leben hinterlassen hatte, bedeutete für unsere Gemeinschaft eine folgenschwere Zäsur. Von den 480 Ausgehobenen (darunter 244 Männer und 236 Frauen), die aus Zeiden verschleppt wurden, kehrten bis Oktober 1949 etwa 300 in ihren Heimatort zurück. Weitere 100 wurden aus russischen Internierungslagern nach Deutschland entlassen. Erst die späte Familienzusammenführung in Deutschland schuf die Voraussetzungen für die lang ersehnte Zusammenführung von versprengten und getrennten Familien.

1965 schloss Baldi Herter seine Ansprache unter anderem mit den Worten: „ Es ist erforderlich, dass wir alle sich bietenden Möglichkeiten prüfen, um einen Weg zu finden, der uns zueinander führt“. Wie recht er doch damals hatte. Überflutet von weltpolitischen Ereignissen und den Veränderungen in Osteuropa wurde tatsächlich nach 1989 ein Weg gefunden, der dieser damaligen Sehnsucht für alle Ausreisewilligen unverhofft Rechnung getragen hat. Ob dieser Weg der allein richtige war, darüber lässt sich aus heutiger Sicht gesamtgeschichtlich sicher streiten.

Baduin Herter erkannte, unabhängig von seinem Einzelschicksal, in der Folgezeit sehr bald, dass seine Ansprache von 1965 nur einen winzigen Teil dieses folgenschweren Ereignisses (13. Januar 1945) und der Zeit danach beinhaltete, und nur in groben Zügen wiedergab, was ihm und seinen Landsleuten von 1945 bis 1949 in der Sowjetunion widerfahren war. Und so fühlte er sich zeitlebens den Opfern der Deportation – den noch Lebenden und der Toten – in hohem Maße verpflichtet, und nahm jede sich bietende Möglichkeit wahr, die Deportation zu dokumentieren, Material zu sammeln und vor allem überlebende Zeidner zu Wort kommen zu lassen. Seine Mühe hat sich gelohnt.

So verfügt die Zeidner Nachbarschaft heute über eine inhaltsvolle Dokumentation (natürlich ist diese nicht abgeschlossen) über diese Deportation im Jahr 1945 und die Zeit danach. Nach dem Tod von Balduin Herter im Jahr 2011 wurde diese an unser Zeidner „Ortsarchiv“, das ich verwalte, übergeben. Hierbei handelt es sich hauptsächlich um Erlebnisberichte von Zeidner und Zeidnerinnen, denen diese leidvolle Zeit leider nicht erspart geblieben ist. Liest man die Berichte derer, die die  Deportation am eigenen Leib erlebt haben, so kann man erst nachvollziehen, zu welch grausamen, menschenverachtenden Strafaktionen die Sowjetunion, die nach dem 9. Mai 1945 zu den Siegermächten zählte, in der Lage war, um unter Beraubung jedweder persönlicher Freiheit und mit Zwang ideologische Ziele zu erreichen. Parallelen zur heutigen Zeit – in der nach wie vor Kriege stattfinden - sind durchaus angebracht, wenn auch die Zielsetzungen unterschiedlicher nicht sein können.

Die unzähligen Beiträge des Monats Januar 2015 in den uns zugänglichen Medien werden an diese von Schrecken und Grauen geprägte Zeit von damals sicher gebührend erinnern und auch nach 70 Jahren die Ereignisse des Unrechts und des Schreckens wieder ungeschönt aufleben lassen. Das ist wichtig, denn zum einen schulden wir das den Opfern dieser Verschleppung und zum anderen werden die Nachfolgegenerationen für geschichtliche Ereignisse und Zusammenhänge sensibilisiert.

Die Frage, die sich uns nach 70 Jahren stellt, ist die, wie wir mit den Geschehnissen von damals heute umgehen und welche Konsequenzen und Lehren wir daraus gezogen haben beziehungsweise ziehen müssen.

Als Mitglieder der Zeidner Nachbarschaft bleibt uns 2015 gemeinsam nur eines – auch nach 70 Jahren sollten wird es nicht versäumen, der Opfer und Toten der damaligen Deportation in Ehrfurcht zu gedenken und gleichzeitig dafür dankbar sein, dass wir 70 Jahre nach diesen schrecklichen Ereignissen in Frieden und Freiheit leben dürfen und den Nachfolgegenerationen solch menschenverachtende Strafaktionen erspart geblieben sind.

Im Gedenken an die 131 Toten des Zweiten Weltkrieges und die 113 Toten der Deportation wurden auf dem Kirchhof der Evangelischen Kirche in Zeiden an der südwestlichen Kirchenmauer (zwischen Haupteingang und Eingang zum Chor) 12 weiße Marmortafeln mit den Namen der Toten angebracht, die am 24. September 2000 im Beisein von Vertretern der Zeidner Nachbarschaft von der evangelischen Kirchengemeinde in einer sehr bewegten Feierstunde eingeweiht wurden. Damit hat die Kirchengemeinde und die Zeidner Nachbarschaft schon vor Jahren bewusst ein erkennbares Zeichen gesetzt.

Noch liegen nicht alle Fakten auf dem Tisch

Das Geschehen um diese Deportation, von der unmittelbar ca. 75.000 Rumäniendeutsche, davon rund 30.000 Siebenbürger Sachsen, betroffen waren, ist Vergangenheit. Es ist aber weder vergessen noch hat es aufgehört, das Selbstverständnis der Siebenbürger Sachsen als ethnische Minderheit in Rumänien und als Gruppe in Deutschland zu bestimmen. Die Meinung, Rumänien habe seine deutschen Einwohner an die Sowjetunion verkauft, um seine eigene Haut zu retten, hat sich unter uns Sachsen bis heute gehalten. Viele individuelle Erlebnisberichte von Zeidnern deuten ebenfalls darauf hin. In wieweit diese Meinung begründet ist, wird heute noch in unterschiedlichen historischen Untersuchungen, denen die wichtigsten Archivalien zu Grunde liegen, untersucht und wissenschaftlich erforscht. Die neue Geschichtsschreibung ist an einer ehrlichen und umfassenden Rekonstruktion interessiert (hat teilweise schon stattgefunden) und es ist nur eine Frage der Zeit, bis uns, die ein Interesse an der abschließenden Beantwortung dieser Frage haben, eine angemessene politische, rechtliche und historische Einschätzung der damaligen Geschehnisse vorliegt.

Die von der rumänischen Regierung beschlossene Wiedergutmachung für Russlanddeportierte (siehe auch Siebenbürger Zeitung vom 15. April 2013) ist ein entscheidender Hinweis in die richtige Richtung, wenn auch die meisten der damals Deportierten und Überlebenden die etwas späte Wiedergutmachung altersbedingt nicht mehr erleben konnten.

Helmuth Mieskes

Böbingen