70 Jahre Deportation

Aus den Aufzeichnungen von Hedwig Voinea, geborene Martonyi (Teil 4 und Schluss).


Eine fast lustige Begebenheit fällt mir ein. Elfriede (Dück, geb. Stoof) hatte sich im Herbst 1944 zu Hause einen sehr schönen hellblauen Wintermantel  machen lassen – beste Qualität. Sie hatte ihn nach Russland mitgebracht und an einen Nagel über dem Bett aufgehängt. Er hing während der Sommermonate dort. Als Elfriede ihn im Oktober anziehen wollte und den Arm in den Ärmel steckte, gab es einen Schrei. Sie war kreidebleich. Im Ärmel war ein Mäusenest mit vielen kleinen Tierchen und der Mäusemutter. Der Mantel samt Ärmel war nämlich mit Wattelin gefüttert. Der Platz, den die Maus ausgesucht hatte, war also nicht schlecht – für die Maus. Wir schüttelten den Mantel  kräftig aus, drehten den Ärmel um und entfernten mit kleinen Ruten die Brut, wobei es uns gerüttelt und geschüttelt hat. Obwohl Elfriede den Ärmel gründlich wusch, wurde er  nicht mehr so schön wie vorher.

Wir wussten, dass auch Mäuse in den Baracken waren. Sie konnten aber nicht gefangen werden, denn es gab weder Fallen, noch Gift. Manchmal hörten wir nachts rufen: „Jetzt ist mir wieder eine Maus übers Gesicht gelaufen!“. Was soll ich sagen, es war ein Elend.

Elfriede und ich waren fast immer gleich gekleidet und galten bei den Russen im Lager als Schwestern. Wir trugen rot gestrickte Westen und die gleichen Blusen. Wir ließen uns nicht unterkriegen und trotz der miserablen Bedingungen sahen wir immer sauber und ordentlich aus. Während unseres Arbeitseinsatzes im Steinbruch hatten wir ein schönes  Erlebnis, das den Alltag etwas erträglicher machte.

Ich habe schon erzählt, dass sich in der Nähe des Steinbruchs  das Lazarett befand. Täglich durften die dortigen Ärzte (deutsche Kriegsgefangene) im Hof des Lazaretts ein paar Runden drehen. Um uns bemerkbar zu machen und um zu zeigen, dass wir Deutsche  sind, sangen wir verschiedene deutsche Lieder. Bald sahen wir, dass ihr Interesse für unsere Gruppe wuchs. Wir verständigten uns durch Zeichensprache, aber alles geschah mit größter Vorsicht und war immer mit Risiko verbunden. Durch einen deutschen Gefangenen, der anscheinend im Lazarett Tischlerarbeiten machte - klein, etwa 30 Jahre alt – erfuhren wir einiges über die Ärzte. Dieser junge Mann ging öfters an uns vorbei, aber immer in Begleitung eines Russen mit Gewehr auf dem Rücken. Er erledigte bei seinen Offizieren Tischlerarbeiten und trug deshalb immer Säge, Feile und Hammer bei sich. Er war gesprächig und sein Wächter nicht zu streng. Eines Tages schmuggelte er uns ein kleines Zettelchen in die Hand, beschrieben mit ganz kleinen Buchstaben von den beiden Ärzten, für die beiden Mädchen in den roten Westen. Gemeint waren natürlich Elfriede und ich. Durch dieses Männlein also kamen wir in brieflichen Kontakt, allerdings selten, weil es viel zu gefährlich war und niemand eingesperrt werden wollte. Aber die beiden Ärzte setzten ihre Spaziergänge im Hof fort, wir machten Zeichen, unsere Gruppe sang deutsche Lieder und hie und da flogen kleine beschriebene Zettel um einen Stein gewickelt von Hof zu Hof. Mein Briefpartner war Dr. Eugen Calve aus Österreich. Ein oder zweimal schickten sie uns je zwei Schinkenkonserven, die der Bote unter einer Baumwurzel versteckt hatte. Auf dem Heimweg von der Arbeit nahmen wir sie mit. Es war ein Fest. Wenn ich mich recht erinnere, waren einmal je zwei Eierkuchen am selben Platz versteckt.

Die Ärzte konnten wir nie aus der Nähe sehen oder persönlich kennenlernen, denn ihr Spazierweg war genau markiert und eine Abweichung nicht erlaubt. Der Abstand zu ihnen betrug etwa 80 bis 90 Meter, meiner Schätzung nach.  Und doch war die harte Zeit im Steinbruch durch diesen indirekten Kontakt zu den Ärzten leichter zu ertragen. Wir freuten uns auf den nächsten Tag. Es war eine kleine Abwechslung, die unserer Seele gut tat. Leider war es zu der  Bekanntschaft erst sehr spät gekommen. Der Winter begann schon Anfang Oktober und machte durch den hohen Schnee und die eisige Kälte eine weitere Verständigung  unmöglich.

Es wurde also wieder Winter im Dombass. Wir wurden in übergroße Steppjacken gekleidet, „Pufoaika“ genannt. Die Schuhgröße betrug 44 – für alle. Wir sahen alle gleich aus. Trotz der viel zu großen Schuhe, die Füße in Tücher eingewickelt, zwei Paar Socken darüber, waren die Füße oft fast zu Eis gefroren. Wir fragten uns, wie wir diesem russischen Winter standhalten sollten.

Der liebe Gott und Dr. Erwin Reimer haben mir geholfen, dass ich diesem Dombass, diesem elenden Lagerleben noch kurz vor zwölf freigeworden bin. Ich bin Erwin immer dankbar dafür und habe ihn lange Jahre in mein stilles Abendgebet eingeschlossen. Ohne ihn wäre ich nie wieder nach Hause gekommen; ich war krank, sehr krank und das hat Erwin gewusst.

Zehn Tage vor Weihnachten, abends, wurden  Herr Tittes, Vater von Eva Tittes, verheiratete Aescht, Frau Herta Zeides, verheiratete Busaga und ich vor eine Kommission bestellt. Wir zitterten am ganzen Körper, überlegten hin und her, was wir gesündigt haben könnten. Wir fanden keine Erklärung für diese Vorladung. Endlich war es soweit, wir wurden aufgerufen und kamen vor die Kommission. Am Tisch saßen zwei hochgradige, unfreundliche Offiziere, die russische Krankenschwester, der NKWD-ler vom Lager und Dr. Erwin Reimer. Dr. Reimer erklärte den Russen unsere Krankheiten. Sie machten sich eine Menge Notizen. Schließlich durften wir den Raum verlassen. Über den Sinn des Verhörs konnten wir nichts erfahren. Selbst Dr. Reimer gab uns keine Auskunft, er hätte sich und letztlich auch uns damit geschadet. Wenn er auch Lagerarzt war, so hatte er bei den Russen doch einen sehr schweren Stand. Umso vorsichtiger musste er sein.

Am 24. Dezember holte mich eine Russin von meinem Arbeitsplatz ins Lager. Warum, fragte ich. Sie wusste auch nicht. Im Lager herrschte große Aufregung. Wir mussten baden und saubere Kleidung anziehen. Alles, alles musste ganz schnell gehen. Man munkelte, wir würden nach Hause fahren. Dort, wo wir im Januar ausgeladen worden waren, standen wieder Viehwaggons, die, vermutete man, auf uns warteten. Es war tatsächlich so. Wir sollten dort hinein in Waggons, in denen man vorher Pferde, Holz und  Zigeuner aus Transnistrien transportiert hatte. Egal, wir wollten nach Hause. Aber sollten wir wirklich nach Hause? Konnten wir den Russen trauen? Wie oft waren wir von ihnen belogen worden.

Der Abschied von Elfriede fiel mir sehr schwer. Ich bedauerte aufrichtig, dass sie nicht auch mitkommen durfte. Sie sehnte sich so sehr nach ihrem Töchterchen.

Jedenfalls, es war also der 24. Dezember 1945, Weihnachtsabend, und wir waren in den Waggons, froh und zugleich misstrauisch und dachten mit Bedauern an die im Lager Zurückgebliebenen. Der Zug setzte sich schließlich in Bewegung. In einer Ecke des Waggons lag ein schmutziges Tannenästchen, da man vorher Baumstämme transportiert hatte. Das Ästchen wurde unser Weihnachtsbaum. In unserem Waggon war auch Pfarrer Reich aus Tartlau. Er hielt einen Gottesdienst, wir sangen Stille Nacht, Oh du fröhliche, Süßer die Glocken. Allen flossen die Tränen. Wir weinten und lachten, waren froh und traurig, es war ein unbeschreibliches Wechselbad der Gefühle.

Inzwischen bestätigte unser Transportführer, ein russischer Offizier, dass wir nach Hause fuhren. Wir trauten dem Frieden aber erst, als wir in Bessarabien waren. Als wir jedoch erfuhren, dass wir uns  immer noch auf russischem Boden befanden, waren wir sehr enttäuscht. Wir hatten nicht gewusst, dass dieser Teil Rumäniens nach dem Krieg Russland zugesprochen wurde.

Es ging weiter bis Jassy (Iasi), wo wir in der evangelischen Schule vorübergehend Quartier bezogen. Bis hin sind wir fast verhungert, denn der russische Begleiter hatte den größten Teil unseres Proviants verkauft, so dass für uns nur noch ein kleiner Rest blieb.

Über die Fahrt von Parkomuna gäbe es viel zu schreiben, aber das würde ein zu langer Bericht werden. Nur so viel: Die Waggons waren total verlaust. Abwechselnd saßen wir auf den Holzpritschen und entlausten uns, was aber leider nicht alle taten. So kam es, dass wir am nächsten Tag wieder voller Läuse waren. Auch waschen konnten wir uns nie. Ich hatte - schwach und anfällig, wie ich war – große Angst vor einer Seuche, der ich wahrscheinlich zum Opfer gefallen wäre. Aber Ende gut, alles gut.

Wir waren also in Jassy. In der Schule wurde für unseren Transport von 290 Leuten gekocht. Es gab gute, warme Suppe mit Fleischwürfeln und Nudeln, warmen Tee und Brot dazu. Alles war schmackhaft und tat uns gut. Auch kamen Rumänen aus der Stadt, die von unserer Ankunft erfahren hatten und brachten Orangen, Äpfel und Semmeln. Es war so gut gemeint, wenn auch nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Es waren hauptsächlich  Familien, deren Kinder von den Russen verschleppt worden waren.

Zu der Zeit war es üblich, dass die Behörden bis zum 7. Januar dienstfrei hatten. Das hieß für uns, dass wir keine Rückkehrbescheinigung vom Polizeiamt bekommen konnten. Es war einfach niemand da, der die „foaie de repatriere“, den Wiedereinbürgerungsschein also, ausfüllen und unterschreiben konnte. Nach vielem Hin und Her setzten wir uns mit dem Kommandanten in Verbindung und schlugen vor, diese Formulare selbst auszufüllen, er müsse bloß unterschreiben. Er hatte Verständnis, schickte uns die Formulare und Herr Tittes, Herta  und ich machten uns an die Arbeit, füllten die Papiere aus, sie wurden unterschrieben, jeder bekam einen Gratisfahrschein und wir fuhren Richtung Kronstadt. Ich hatte ein Telegramm aus Jassy nach Hause geschickt. So warteten in Kronstadt auf dem Bahnhof mehrere Zeidner mit Pferdewägen auf uns. Sie hatten Decken dabei und wenn ich mich recht erinnere, auch ein paar Wurstbrote mitgebracht. Die waren im Nu weg. Endlich sahen wir unseren Zeidner Berg, beschneit und immer noch schön und stolz. Ich denke, er hat sich über unsere Heimkehr auch gefreut, waren wir doch Zeidner, die den Berg so oft bestiegen und die wunderschöne Aussicht, die sich nach allen Seiten bot, bewundert hatten.

Zu Hause angekommen, fand ich meine Mutter im Bett nach einer schweren Darmoperation. Meine gute Großmutter schoss von einer Ecke zur anderen vor Freude. Sie hatte eine herrliche Hühnersuppe gekocht. Sie hatte es so gut gemeint. Die Suppe schmeckte köstlich, war aber zu fett für meinen Magen, der sich im Lager an Magerkost gewöhnt hatte. Am nächsten Tag sah es um meinen Mund ganz scheußlich aus.

Nun war ich zu Hause, die Freude war groß, aber meine Gedanken waren immer wieder im Dombass, wo ich ein so schweres Jahr erlebt hatte. Nachts träumte ich oft davon. Es hat lange gedauert, bis ich wieder ganz zu Hause war.