24.01.2015

70 Jahre Deportation

Aus den Aufzeichnungen von Hedwig Voinea, geborene Martonyi (Teil 2).

 

Ganz Russland und auch der kahle Hang waren mit Schnee bedeckt. Es war eine eisige Kälte; kein Weg führte zu den Baracken. Oben auf dem Hügel war keine Bewegung, ein Zeichen, dass man auf uns  nicht oder noch nicht wartete. Wir stiegen aus den Waggons, müde nach der 14-tägigen Fahrt, bleich, hungrig, verzweifelt, gefroren und ängstlich. Keiner konnte wissen, was in den nächsten Jahren auf uns zukommen sollte. Wir stiegen den Hügel in Serpentinenform hoch, im Gänsemarsch, jeder mit seiner Habe auf dem Rücken oder unter dem Arm. Wir mussten uns durch den tiefen Schnee kämpfen, so ging es nur sehr langsam weiter. Von Fuße des Hügels aus gesehen, war es ein jämmerlicher Anblick. Endlich waren alle im Hof angekommen, etwa 1600 Menschen. Und tatsächlich wurden wir noch nicht erwartet. Eigentlich sollten wir zu einem späteren Termin ankommen. Die Baracken waren also noch nicht vorbereitet worden für die Gefangenen. Es lag kein Stroh auf den Holzpritschen, keine Kohlen waren da zum Heizen. Und das bei 40 Grad Kälte. Die Küche und der Vorratsraum waren leer. Kein Brot, keine Lebensmittel. Kein warmes Wasser. Und wir schmutzig und gefroren. Im Koffer oder im Rucksack hatten die meisten noch eine Kleinigkeit zum Essen. So betrog man den Magen am ersten Abend.

Irgendwann kam ein russischer Offizier auf einem klapprigen Lastwagen und holte zehn Männer. Nach zwei Stunden kamen sie zurück, den Lastwagen vollgeladen mit gefrorenen Tierhaxen. Die wurden abgeladen und die Männer mussten sie mit Äxten auseinanderschlagen, damit das Eis schneller tauen konnte.

Schließlich wurden auch Kohlen gebracht. Wir wurden auf Baracken verteilt und schliefen die erste Nacht auf leeren Brettern, fest nebeneinander, wie die Heringe in der Konservendose, aber wir hielten uns warm. Wir schliefen und schliefen auch nicht und stellten uns tausend Fragen. Wir wussten bloß soviel: Wir waren im Donbass beim „Schwarzen Gold“.

Im Lagerhof wurde nachts ein großes Feuer gemacht, um die Tierfüße zu sengen. So konnten wir am nächsten Tag die Fellhaare leichter abkratzen. Das Fleisch wurde in große Kessel geworfen und mit Salz und Maisschrot gekocht. Das war monatelang unser Essen. In der Früh sechs Uhr eine Kelle voll und abends 17 Uhr die Wiederholung. Wir wurden in Brigaden eingeteilt. Die Bergarbeiter bekamen 750g Brot, alle anderen 500g. Es war kaum zu genießen, fest, schwarz, klebrig und schmeckte nach Ziegel.

Unser Zeidner Doktor Erwin Reimer wurde Lagerarzt. Mit seiner Hilfe wurde ich mit anderen Zeidnerinnen dem Küchenpersonal zugeteilt. Ich weiß nicht, ob er mir etwas Gutes damit getan hatte, denn in der Küche ekelte ich mich so sehr, dass ich von dort keinen Bissen essen konnte. Es war alles so primitiv, so dreckig. Das Notwendigste fehlte. Die Tische in der Küche mussten täglich mit Messern sauber gekratzt werden, denn es gab weder Soda, noch Lappen. Das war eine Mordsarbeit. Alles was in den Kessel kam war eklig und fast nicht genießbar. Es gab oft verschimmeltes Maismehl, das mit Futterrübenblättern gekocht wurde, etwas Salz – und wieder war die Suppe fertig.

Das einzig Gute in der Küche war die ewig gute Laune von Alfred Mieskes (aus der Weihergasse). Er war der Heizer. Er konnte eins gut trösten. Sein gutes Gemüt war für uns alle von Nutzen. Wir vergaßen für Momente wie elend es um uns stand.

Im Lager waren, wie ich schon erwähnte, 1600 Deportierte. Nach 14tägiger Quarantäne wurden viele in andere Lager überwiesen wie Nikanor oder Deltalager. 600 Personen blieben in Parkomuna, dem Hauptlager, in dem auch ich war. So ergab es sich, dass das ganze Lagerpersonal reduziert werden musste, so auch das Küchenpersonal. Elfriede und ich kamen in die Waschküche. Auch dort war alles primitiv. Wir wuschen die Wäsche der Kranken aus dem Lazarett. Durch ungewaschenes Obst, durch total unhygienische Zustände brach die Ruhr aus. Wir in der Waschküche mussten die völlig verdreckte Wäsche mit bloßen Händen waschen. Die Infektionsgefahr war groß. Dazu kam noch die Krätze. Die meisten im Lager hatten diese eklige, juckende Krätze, aber sowohl ich als auch Elfriede blieben verschont. Wenn ich an die schmutzigen Leintücher der Ruhrkranken denke, wo uns der Dreck zwischen den Fingern quoll…Gott, war das furchtbar! Es gab kein Desinfektionsmittel, Seife nur ganz wenig. Wir wuschen uns die Hände, rieben sie mit Sand. Ich ekelte mich vor meinen eigenen Händen.

Während wir noch in der Wäscherei waren, geschah eines Tages etwas, was uns erschreckte. Im Lagerhof war eine hohe Stange befestigt, an welcher eine Schiene hing. Man sagte uns, dass dann, wenn an die Schiene geschlagen wurde, wir auf der Stelle stehen bleiben müssten bis zur Entwarnung. Nun war es soweit. Die Russen schlugen an die Schiene und jeder Gefangene musste stehen bleiben und auf Entwarnung warten. Als wir in die Baracken zurückgehen durften, fanden wir die Bescherung. Alle unsere Sachen waren durchwühlt worden und alle Medikamente, die einige von uns dabei hatten, mitgenommen. Mein kleines Köfferchen, welches mir meine Mutter  mitgegeben hatte mit allen notwenigen Medikamente samt dazugehöriger Gebrauchsanweisung, war ebenfalls weg. Für mich ein großer Verlust, denn ich hätte die Medikamente in den nächsten Monaten gut brauchen können.